18. Dezember 2001

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Tod einer Nonne nach neun Jahren im Gefängnis

Neue Fakten wurden über den Tod der tibetischen Nonne Ngawang Lochoe bekannt, die im Februar 2001, ein Jahr vor Ablauf ihrer 10-jährigen Haftstrafe, in dem Drapchi Gefängnis von Lhasa starb. Der offiziellen Quelle zufolge war die 28-jährige Ngawang Lochoe an akuter Pankreatitis erkrankt und erst am Tag vor ihrem Tod ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ngawang Lochoe, eine Nonne an dem Samdrub Dolma Lhakhang (Tempel) in Kreis Toelung Dechen (chin. Duilongdeqing), war wegen Teilnahme an einer friedlichen Demonstration in Lhasa im Juli 1992 zu 5 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ihre Haftstrafe wurde 1993 um 5 Jahre verlängert, nachdem sie zusammen mit 13 weiteren Nonnen im Drapchi Gefängnis eine Tonbandaufnahme von ihren Angehörigen und Freunden gewidmeten Liedern gemacht hat, die aus der Haftanstalt herausgeschmuggelt wurde. Die offizielle Begründung für Ngawang Lochoes Gefangensetzung und Urteilsverlängerung lautete auf Teilnahme an "Aktivitäten konterrevolutionärer Propaganda und Aufhetzung".

Einer offiziellen chinesischen Quelle zufolge starb Ngawang Lochoe am 5. Februar in dem Krankenhaus des Militär-Kommandos Tibet der Volksbefreiungsarmee (PLA). Mit akuter Pankreatitis, Arrhythmie, Lungen- und Herzversagen wäre sie wenige Stunden zuvor aufgenommen worden, und ihr Leben hätte nicht mehr gerettet werden können, hieß es in der offiziellen Mitteilung. Ein westlicher Arzt äußerte sich TIN gegenüber, daß aufgrund dieser Information die Hauptursache für ihren Tod wahrscheinlich die akute Pankreatitis war, die zu Herz- und Lungenversagen führte. Akute Pankreatitis ist eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse, die schreckliche Bauchschmerzen hervorrufen kann. "Wenn der Patient sonst in guter körperlicher Verfassung ist, kann der Zustand gewöhnlich behandelt werden", kommentierte Dr John Rundle von der Ärztlichen Stiftung für Folteropfer. "Anzunehmen ist jedoch, daß Ngawang Lochoe durch die Jahre der Mißhandlung, einschließlich Schläge und Mangelernährung, physisch sehr geschwächt war, was ihr kaum Überlebenschancen gab". Traumata gelten als verursachende Faktoren dieses Krankheitsbildes. Die Behandlung für akute Pankreatitis besteht aus intravenöser Flüssigkeitszufuhr, Sauerstoff, Antibiotika oder einem chirurgischen Eingriff.

Ngawang Lochoe war ursprünglich in dem für die Mißhandlung von Gefangenen berüchtigten Gutsa Haftzentrum in Lhasa inhaftiert und wurde dann nach Drapchi verlegt, wo die Häftlinge häufig geschlagen werden und hungern müssen. 1993 war sie eine der 14 Nonnen, die schwer bestraft wurden, nachdem sie Tonbandaufnahmen von Liedern gemacht hatten, die von ihrer Hoffnung in der Verzweiflung, vom Dalai Lama und von ihren Gedanken über Freiheit, ihr Heimatland und die Umstände im Gefängnis handelten (www.tibetinfo.net/publications/bbp/rukhag_3.htm).

Während der neunziger Jahre, und insbesondere seit 1995, gehörte Ngawang Lochoe wohl auch zu den weiblichen politischen Häftlingen (die meisten davon Nonnen), welche unter der Aufsicht des Gefängniskommandos der Bewaffneten Volkspolizei (PAP) die kräftezehrenden militärähnlichen Drillübungen in Drapchi mitmachen mußten. Im Mai 1998 war Ngawang Lochoe auch eine von vielen weiblichen Häftlingen in Drapchi, die nach den Protesten im Gefängnis, die ihren Anfang nahmen, als die Häftlinge während eines offiziellen Flaggenappells Parolen der Sympathie für den Dalai Lama und tibetische Unabhängigkeit riefen, mit Schlägen bestraft wurden. Fünf Nonnen, Tsultrim Zangmo (alias Choekyi), Khedron Yonten, Tashi Lhamo, Drugkyi Pema (Laienname: Dekyi Yangzom) und Lobsang Wangmo, starben einen Monat nach den Protesten vom Mai 1998 im Gefängnis infolge der schweren Mißhandlungen.

Eine Nonne, die einst die Zelle in Drapchi mit Ngawang Lochoe (Laienname Dondrub Dolma) teilte und die jetzt im Exil ist, erinnert sich, sie kurz nach den Protesten gesehen zu haben und erzählte TIN: "Damals wurden alle Gefangenen entsetzlich geschlagen. Danach wurden wir in unseren jeweiligen Zellen isoliert, wobei viele der Nonnen immer wieder zu Vernehmungen herausgeholt wurden. Ich weiß nicht, wie Ngawang Lochoe damals geschlagen und behandelt wurde. Am Tag meiner Entlassung bemühte ich mich, einen Blick auf sie zu werfen, als ich an ihrer Zelle vorbeiging. Gewöhnlicherweise durften wir ja nicht in andere Zellen hineinschauen. Aber diesmal trafen sich unsere Augen und sie winkte mir zu. Es war das letzte Mal, daß ich sie sah."

Ein Familienangehöriger von Ngawang Lochoes wurde anläßlich eines Gefängnisbesuches zwei Wochen vor ihrem Tod daran gehindert, sie zu sehen, wie ein jetzt im Exil befindlicher Tibeter dem Tibetan Centre for Human Rights and Democracy, einer in Indien ansässigen NGO, mitteilte. Derselben Quelle zufolge wurden Ngawang Lochoes Angehörige am Tag ihres Todes benachrichtigt, daß sie erkrankt und ins Krankenhaus verlegt worden sei. Als sie ankamen, um nach ihr zu schauen, wurde ihnen nur noch ihr Leichnam gezeigt, aber sie wurden nicht über die Todesursache informiert.

Die damals 19-jährige Ngawang Lochoe war eine der jüngsten Nonnen in der Gruppe, die auf einen Protest hin verhaftet wurden. Die im Exil lebende tibetische Nonne äußerte sich TIN gegenüber: "Ngawang war physisch eine der gesündesten Nonnen im Gefängnis. Sie war stets sehr ruhig und entspannt und ziemlich schweigsam. Die Aufseher schienen nicht übermäßig streng mit ihr zu sein, und sie war auch nicht eine, die sie mit besonders harten Strafen züchtigten. Sie war nicht so leicht niedergeschlagen und meistens guter Laune." Der offiziellen Quelle zufolge wäre Ngawang Lochoes Haftfrist am 21. März 2002 zu Ende gegangen.

NB: "Rukhag 3: The Nuns of Drapchi Prison" wurde von TIN im Oktober 2000 veröffentlicht und ist ein umfassender Bericht über die Art und Weise des Widerstandes in der Zeit von 1992 bis 1999 und seine Unterdrückung innerhalb der zwei Sektionen des Traktes (rukhag) 3, wo alle Insassen Frauen und die meisten politische Häftlinge sind. Der volle Text der Broschüre einschließlich Photos und der im Gefängnis aufgenommenen Lieder der Nonnen, darunter auch Ngawang Lochoe, steht auf einer CD-Rom zur Verfügung, die bei TIN bestellt werden kann unter www.tibetinfo.net/publications/bbp/rukhag_3.htm.

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